"Wir brauchen einen öffentlichen Arbeitsmarkt"

Er war der Herr über die Leipziger Gummistiefelbrigaden: Matthias von Hermanni baute nach der Wende den Betrieb für Beschäftigungsförderung (bfb) auf - mit bis zu 8000 Arbeitsplätzen der größte seiner Art in Deutschland. Dann geriet er wegen Untreueverdachts ins Zwielicht. Vor wenigen Tagen hob der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das 2002 verhängte Urteil gegen Hermanni auf und empfahl die Einstellung des Verfahrens. Erstmals seit der Abwicklung des bfb, für dessen Krise ihr einstiger Chef hauptverantwortlich gewesen sein soll, und seit dem Ende eines der längsten Strafprozesse in Sachsen äußert sich Hermanni jetzt im Interview - wenngleich er vielen Fragen unter dem Druck seines Dienstherren ausweichen muss.

Frage: Sie haben in den letzten Jahren viel durchgemacht. Wie geht es Ihnen heute und was war für Sie das größte Problem?

Matthias von Hermanni: Mir geht es körperlich gut, geistig habe ich die neue Situation nur teilweise erfasst. Da ist noch vieles aufzuarbeiten. Am schwierigsten war für mich immer miterleben zu müssen, dass ich meinen drei Kindern in ihrer jeweiligen Situation nur bedingt helfen konnte. Es war für sie sehr schwer, sich gegenüber Freunden erklären zu müssen, dass ihr Vater in der Öffentlichkeit unter Betrugsverdacht steht. Gleichzeitig habe ich aber eine große Solidarität von unglaublich vielen Menschen erfahren, für die ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanke. Am allermeisten war ich betroffen, als ich miterleben musste, wie eine ehemalige, sehr engagierte Kollegin nach monatelangem Leiden letztlich verstorben ist.

Können Sie hierzu mehr sagen?

Natürlich. Aber nicht hier und heute. Sie wissen, ich bin Beamter der Stadt Leipzig und möchte es auch gerne bleiben. Das muss ich auch - allein, um den Krieg, der gegen mich geführt wurde und der noch lange nicht zu Ende ist, wirtschaftlich durchstehen zu können. Bei allem Beistand der Familie und größter Solidarität von vielen ehemaligen Kollegen - so etwas überlebt nur, wer es auch finanziell verkraften kann. Daher brauche ich weiterhin meine Bezüge, die in den letzten Jahren vollständig in den Prozess geflossen sind.

Sie haben also einen Maulkorb verpasst bekommen?

Das gehört zu den Themen, zu denen ich mich nicht äußere. Als Beamter habe ich Pflichten, ich nenne das nicht Maulkorb.

Wie lange werden die Verfahren gegen Sie noch dauern?

Das kann ich nicht genau beantworten, aber ich gehe von mindestens ein, zwei Jahren aus. Am Ende werde ich gewinnen.

Der Stadtrat hat einen Ausschuss zur Akteneinsicht gebildet und nach dessen Schlussbericht Ihre Entlassung gefordert.

Kein Kommentar.

Sie haben mehrere Strafanzeigen bezüglich der Abwicklung des bfb gestellt und ...

Nein. Das stimmt nicht. Ich nicht.

Wie würden Sie heute Ihre Beziehungen zu Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee beschreiben?

Gut, er hat sich in den ganzen Jahren in seiner Funktion als OBM immer absolut korrekt verhalten. Darüber hinaus als Mensch fair.

Gilt dies auch bezüglich der Abwicklung des bfb?

Kein Kommentar.

Was wäre passiert, wenn Sie den Betrieb weiter geführt hätten?

Zu den Abläufen und Ereignissen nach 1999 in Leipzig gebe ich auch an dieser Stelle keinen Kommentar. Ich sage auch nichts zur Leipziger Arbeitsmarktpolitik.

Und zu der allgemeinen Arbeitsmarktpolitik?

Meiner Auffassung nach steht es mir zu, mich hierzu als sachverständiger Bürger zu äußern. Insbesondere auch, weil ich seit Ende der 80er Jahre immer und überall die selbe Auffassung schriftlich und mündlich vorgetragen habe und diese sich in keiner Weise verändert hat.

Sie haben in Hannover und in Leipzig einen kommunalen zweiten Arbeitsmarkt aufgebaut und waren bis 1999 als Sachverständiger ständiger Gesprächspartner diverser Bundes- und Landesregierungen. Welche Auffassung haben Sie dort vertreten?

Wir benötigen einen ungeförderten, privaten, sich dem globalen Wettbewerb stellenden Arbeitsmarkt. Den sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Hier steht das Problem der zu hohen Lohnnebenkosten. Wenn alle in die Kassen einzahlen würden, könnten quasi über Nacht die Lohnnebenkosten um über 20 Prozent gesenkt werden. Auch deshalb benötigen wir zudem einen öffentlichen Arbeitsmarkt.

Mit welcher Aufgabe?

Er muss die Menschen zunächst in den gesellschaftlichen Strukturen halten. Gerade bei den Langzeitarbeitslosen gibt es einen großen Anteil von Menschen, die in ihrem Tagesablauf eine feste Ordnung brauchen. Geschieht dies nicht, sind die Folgekosten an anderen Stellen in unserer Gesellschaft um ein Vielfaches höher. Ferner muss er die ausufernde Schwarzarbeit verhindern. Wer mit An- und Abfahrt 50 Stunden in der Woche arbeitet, kann in dieser Zeit nicht schwarzarbeiten, und er hat auch gar keine Lust mehr dazu. Darüber hinaus wird der Langzeitarbeitslose ja sowieso schon durch die öffentlichen Kassen, also von der Gemeinschaft bezahlt. Es ist doch daher auch nur konsequent, dafür die Arbeitskraft abzufordern und der Gemeinschaft wieder zukommen zu lassen.

Warum kommunal, und wie soll das finanziert werden?

Ein Arbeitsplatz besteht aus drei Faktoren: Erstens den arbeitslosen Menschen. Da haben wir derzeit zwischen fünf bis acht Millionen, je nach Lesart. Die betroffenen Menschen leben in den Kommunen, sind also bereits vor Ort. Zweitens der Arbeit als solcher. Diese ist auf kommunaler Ebene unbegrenzt vorhanden. Schauen Sie sich den Zustand unserer Schulen, Kindertagesstätten oder Grünanlagen an. Dort nimmt man dem Handwerk auch keine Arbeit weg, denn die Kommunen haben keine Mittel mehr. Im Gegenteil: Durch eine intelligente Verknüpfung lassen sich zusätzliche Aufträge für das Handwerk erschließen. Im Bildungs- und Sozialbereich bestehen weitere zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten, auch für viele hochqualifizierte Arbeitskräfte. Drittens geht es um Personal- und Sachmittel sowie die notwendigen Mittel für die Organisation der Arbeit, um die drei genannten Faktoren zusammen zu binden. Den weitaus größten Block stellen hierbei die Personalkosten dar, diese sind in Form der Zahlungen von Arbeitslosengeld II - allerdings auf Bundesebene - vorhanden. Sie werden gegenwärtig fürs Nichtstun ausgereicht. Die Organisationskosten lassen sich mit einem Federstrich bei der Bundesanstalt einsparen. Schauen wir uns am Ende dieses Jahres nur die Aufwendungen bei der neuen Behörde, der "Arge", an.

Bleiben die nicht unerheblichen Sachkosten. Wer soll dafür aufkommen?

Aus der Erfahrung mit der Beschäftigung bei den Sozialhilfeempfängern ist uns doch bekannt, dass bei konkretem Arbeitsangebot mehr als ein Drittel die Arbeit nicht aufnimmt. Ferner wären auch viele in unserer Gesellschaft bereit, einen zusätzlichen Beitrag zu leisten, wenn sie denn nur sehen würden, dass sie in ihrem unmittelbaren Umfeld einen Nutzen oder Vorteil von der Arbeit hätten. Nehmen Sie die Eltern einer Kita oder Schulklasse. Da bekämen Sie schon bei der ersten Bitte das Geld für die Farbe zusammen. Zusätzlich entsteht durch die Arbeit ein Mehrwert.

Jetzt sprechen Sie vom ersten Arbeitsmarkt?

Die Begrifflichkeiten sind doch völlig unscharf und geben die Realitäten in keiner Weise wieder. In Wahrheit müsste zwischen geförderten und ungeförderten Arbeitsmärkten unterschieden werden. Im sogenannten ersten Arbeitsmarkt werden doch heute mehr Arbeitsplätze gefördert als im zweiten. Durch diese Förderung haben wir in Wahrheit eine Vielzahl von Arbeitsplätzen zerstört, weil wir den notwendigen Anpassungsprozess blockiert haben.

Sie wollen also Ihre Gummistiefelbrigaden wieder haben?

Stopp, zunächst zu dem Begriff Gummistiefelbrigaden. Ja, mir hat das quasi politische Signal, das damit verbunden war, immer gefallen. Der, der sich Gummistiefel anzieht, schützt sich selbst vor Dreck. Er signalisiert aber auch: Ich bin bereit, den Dreck von anderen wegzumachen. Insoweit ist es ein politisches Signal. Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten. Die Massenarbeitslosigkeit gefährdet doch in der Zwischenzeit unsere verfassungsrechtlichen Normen.

Sie haben die Frage noch nicht beantwortet.

Sie wissen doch, dass ich dazu nichts sage. Die Kommunen sind für die nächsten fünf Jahre festgelegt. Wir erleben gerade, wie deutschlandweit eine neue Behörde zur Verwaltung des Nichtstuns aufgebaut wird. Wir werden uns in einem Jahr die Vermittlungsquote in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt anschauen können. Hoffentlich fälscht man sie nicht wieder.

Ihr Modell ist von nicht wenigen als sozialistisch verteufelt worden.

So ein Quatsch. Ich bin Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft. In einer globalisierten Wirtschaftsordnung muss sich auch die soziale Marktwirtschaft neu aufstellen. Es findet natürlich über den Staat ein finanzieller Transfer statt, aber nicht mehr allein über Geld, sondern auch über Arbeit. Nur Arbeit erzeugt Mehrwert. Und jetzt drehe ich den Spieß einfach mal um: In Ihrer Zeitung ist stets zu lesen, wir benötigen drei Prozent Wachstum unseres Bruttosozialproduktes, die Summe aller Güter und Dienstleistungen, damit sich die Arbeitslosigkeit abbaut. Woher soll das Wachstum kommen? Um es schlicht zu machen: Mein Sohn muss also in 20 Jahren das Doppelte von dem essen, was ich heute so vertilge. Ich bin aber heute schon mindestens zwanzig Kilo zu dick. Das System klappt nicht mehr. Fragen Sie doch die 6000 Deutsche Bank-Mitarbeiter, die demnächst trotz erheblicher Zuwachsraten arbeitslos werden. Alle politischen Parteien und die Regierungen der letzten zwanzig Jahre verkünden, nächstes Jahr wird es besser. In Wahrheit wird es von Monat zu Monat schlechter.

Sie setzen also nicht auf die Entwicklung der Wirtschaft?

Doch, aber nur, wenn wir ihr den notwendigen Freiraum verschaffen. Und selbst wenn ein Wachstum von drei Prozent erreicht ist, baut sich zunächst die Kurzzeitarbeitslosigkeit ab. Wenn dann in zwanzig Jahren die Langzeitarbeitslosen an der Reihe sein sollten, können wir gemeinsam neu nachdenken. Aber bis dahin sollten wir schon etwas mit den Menschen und nicht gegen sie machen. Machen wir uns doch nichts vor. Mehr als 50 Prozent der heute Langzeitarbeitslosen wird nie wieder in rein marktwirtschaftlichen Strukturen ohne eine öffentliche Förderung beschäftigt werden. Alle Sachverständigen wissen das. Die Betroffenen übrigens auch. Nur unsere Politiker verkünden weiterhin ihre aberwitzigen Wachstumstheorien. Aber es glaubt ihnen sowieso keiner mehr.

Mit Politikern wie Wolfgang Schäuble, Norbert Blüm, Kurt Biedenkopf, Walter Riester und Kajo Schommer habe Sie Ihr Modell erörtert und dem damals zuständigen Staatssekretär des Bundesarbeitsministeriums Werner Tegtmeyer sogar vor Ort die Dimension und Möglichkeiten des Betriebes gezeigt. Welche Schlüsse sind gezogen worden?

Dazu sage ich nichts.

Wären Ihrem Modell folgend heute in Leipzig alle Langzeitarbeitslosen in Arbeit?

Kein Kommentar.

Sie werfen der Justiz vor, nach politischer Steuerung gegen Sie persönlich vorgegangen zu sein?

Hiermit äußere ich mich zu meinem Prozess und beantworte Ihre Frage mit einem klaren und deutlichen Ja.

Interview: Andreas Dunte